Deutschland – 40 Jahre lang war Deutschland nach dem Krieg geteilt. So entstanden in beiden Teilen Deutschlands ganz unterschiedliche literarische Schlüsselwerke. Im Westen arbeitete Günter Grass 1959 in Die Blechtrommel die Nazivergangenheit einer deutschen Familie aus Danzig auf. Seine Hauptfigur ist ein Junge, der im Alter von drei Jahren beschließt, nicht mehr weiter zu wachsen. Im Osten schuf Christa Wolf 1963 mit Der geteilte Himmel ein großes nachdenkliches Werk um ein Liebespaar, das an der politischen Teilung kurz vor dem Mauerbau zerbricht. Beide Bücher wurden auch im jeweiligen anderen Teil des Landes zu Bestsellern und übrigens auch großartig verfilmt von Volker Schlöndorff (1979) und Konrad Wolf (1964). 

Österreich – An einem Abend zu Beginn der 1940er Jahre erreichen ein Vater und seine Tochter ein Dorf in Oberösterreich kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Ihre Koffer und Möbel haben sie auf einem Pferdewagen mitgebracht. Sie lassen sich auf einem verlassenen Hof nieder, den man ihnen zugewiesen hat. Das junge Mädchen ist traumatisiert und umklammert in ihrer Faust einen Strauß aus rotem Flieder. Ferdinand Goldberger ein, Ortsgruppenleiter der NSDAP, musste aus seinem Heimatdorf fliehen, aber seine Verbrechen lasten auch auf seinen Nachfahren. Mit seinem großartigen Roman Roter Flieder hat der 1982 geborene Reinhard Kaiser-Mühlecker nicht nur in der deutschsprachigen Literatur einen Meilenstein gesetzt. Sein Buch ist bereits ein Klassiker.

Belgien ­ Man vergisst manchmal, dass der Vater des weltweit bekanntesten Kommissars nicht Franzose, sondern Belgier ist. In Maigret stellt eine Falle werden innerhalb von sechs Monaten fünf Frauen in Montmartre ermordet. Eine Herausforderung für Maigret. Nach einem Gespräch mit einem Psychiater wird ihm bewusst, dass er sich zunächst in die Psyche des Mörders hineindenken muss. Diese Folge der Abenteuer Maigrets spielt im 18. Pariser Bezirk in Montmartre. Mit der Präzision eines Chirurgen analysiert Georges Simenon einen Außenseiter und "Serienmörder“, indem er seinem eigenen Universum meisterlich Überlegungen aus der Psychoanalyse hinzufügt.

Bulgarien – Geboren 1982 in Sofia, kommt Elitza Gueorguieva im Alter von 18 Jahren nach Frankreich und studiert an der Pariser Filmhochschule FEMIS. Zunächst arbeitet sie als Regieassistentin, später als Filmemacherin. Auf dem DOK Leipzig läuft 2021 ihr Film Un endroit silencieux (Ein stiller Ort). Sie ist ebenfalls die Autorin mehrerer autobiografischer Bücher, die für ihre Genauigkeit und ihren Humor gelobt werden. In ihrem ersten Roman Les cosmonautes ne font que passer (bisher nur auf Französisch und Bulgarisch erschienen) erzählt sie von ihrem Kindheitstraum: eine Kosmonautin zu werden, wie Juri Gagarin – das Idol für so viele Jungen und Mädchen in den sozialistischen Ländern. Der Fall der Mauer 1989 wird diesen Traum erschüttern.

Zypern – Als die Ilias beginnt, dauert der Trojanische Krieg bereits zwanzig Jahre. Ursprünglich lag diese Sage als ein zwölf Gesänge umfassendes Epos vor: den Zyprischen Gesängen. Sie gelten jedoch als verschollen und liegen nur noch in einer späteren Zusammenfassung vor. Verfasst wurden die Gesänge von Stasinos von Zypern. Dieser riesige Sagenschatz lieferte den Tragödiendichtern Athens einen Großteil der Themen für ihre Dramen, vor allem Euripides: Seine erhaltenen Stücke liefern die besten Anhaltspunkte dafür, wie sich die Veränderung vom Epos zum Theater in einer Stadt vollzog, die immer wieder die Schrecken des Krieges erlebte. Für das Buch liegt keine deutsche Übersetzung vor.

Kroatien – Die 17-jährige Silva verschwindet im Spätsommer 1989 nach einem Fischerfest aus ihrem Dorf an der dalmatinischen Adriaküste. Die Ermittlungen des Kommissars Gorki Šain bringen ein sehr viel komplexeres Bild von Silva zum Vorschein als ihrer Familie lieb ist. Aber Jugoslawien steht kurz vor dem Ende, das Tito-Regime kurz vor dem Zusammenbruch und inmitten des politischen Chaos' wird der Fall schnell zu den Akten gelegt… Anhand dieses persönlichen und intimen Dramas wird Blut und Wasser zu einem großen Fresko der Veränderungen der kroatischen Gesellschaft: vom Fall des Kommunismus, über den Boom des Tourismus bis hin zum post-jugoslawischen Bürgerkrieg. Der Roman wurde vielfach ausgezeichnet, u.a mit dem Preis als Bester Europäischer Krimi 2021

Dänemark – Die afrikanische Farm ist eines der beliebtesten Bücher des 20. Jahrhunderts, und Sydney Pollacks Verfilmung Jenseits von Afrika aus dem Jahr 1985 hat sicherlich viel dazu beigetragen! Es ist die Geschichte einer jungen dänischen Aristokratin, die durch ihre Heirat zur Baronin Karen Blixen (Meryl Steep im Film) wurde und eine tiefe Liebe zu Afrika empfindet, während Europa in den Ersten Weltkrieg eintritt. Von ihrem Mann vernachlässigt, verliebt sich Karen in den abenteuerlustigen Jäger Denys Finch Hatton (Robert Redford im Film). Doch der verschwindet. Den Film, der mit sieben Oscars ausgezeichnet wurde, sahen in Deutschland 4,5 Millionen und in Frankreich 4,8 Millionen Zuschauer. Weltweit spielte er 225 Millionen Dollar ein. Trotz dieses enormen Erfolgs sollte man dabei nicht vergessen, was für eine große Schriftstellerin Karen Blixen war, geboren als Karen Christentze Dinesen, die man in Deutschland eher unter ihrem Pseudonym Tania Blixen kennt.

Spanien – Von der Franco-Diktatur bis zum Putschversuch im Februar 1981 wimmelt es in dieser Familiensaga nur so von Dramen und Gewalt. Isabel, eine spanische Aristokratin, wird 1941 in ein Komplott zur Ermordung ihres faschistischen Ehemanns verwickelt, danach von ihrem geheimnisvollen Liebhaber verraten. Die Auswirkungen ihres Verrats gipfeln in einem gewalttätigen Machtkampf, der die Familie und Regierung über drei Generationen hinweg prägt. Es geht auch um die fatale Liebe eines Dorfschullehrers, der sich in die falsche Frau verliebt. Diese Ursünde verwandelt Kinder in Psychopathen, Opfer in Henker und den Ehrenkodex der Samurai in ein erbärmliches Gemetzel. Die Traurigkeit der Samurai ist ein intensiver Psychothriller, der mit einem undurchsichtigen historischen Kontext spielt und die Figuren an die Grenzen ihrer Kräfte führt, um die Vererbung einer Todsünde zu durchbrechen. Auf Deutsch liegt der Roman leider nicht vor.

Estland – Die estnisch-finnische Autorin und Dramatikerin Sofi Oksanen feierte mit ihrem dritten Roman Fegefeuer, derauf ihrem eigenen Theaterstück basiert, international einen Riesenerfolg. Der 2008 erschienene Roman wurde mit Preisen überhäuft und in 38 Sprachen übersetzt. Die Geschichte setzt zunächst im Spätsommer 1992 in Estland ein, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Abzug der Russen. Aliide, eine ältere Frau, hat sich auf ihrem Bauernhof verschanzt und findet in ihrem Garten Zara vor, eine junge Frau. Russische Mafiosi haben Zara gezwungen, sich in Berlin zu prostituieren. Nach ihrer Flucht ist sie verwahrlost und verletzt. Aliide zögert, sie aufzunehmen. Sie hat selber Gewalt und Erniedrigung erlebt. Dennoch entsteht zwischen den beiden Frauen eine Freundschaft. Sofi Oksanen lässt in diesen Schicksalen voller Lärm und Wut 50 Jahre estnischer Geschichte Revue passieren: Ein großartiges Buch über Lüge und Angst.

Finland – Nachdem die Erzählerin dieses Romans plötzlich ihren Vater verliert, erinnert sie sich an ihre Kindheit in einem Arbeiterviertel in Helsinki in den 1950er Jahren. Zu ihren Eltern bestand keine innige Beziehung. Die interessierten sich vor allem für die Bücher von Stalin und Lenin und die internationale sozialistische Arbeiterbewegung. Als sie sich mit ihren Erinnerungen auseinandersetzt, erscheinen diese in einem neuen Licht, wie von einer seltsamen Farbe übermalt. Das kleinste gemeinsame Vielfache ist die Erzählung dieser Frau und des kleinen Mädchens in ihr: Ein kleines Mädchen, das immer ein Junge sein wollte und seine eigene Geschichte in der dritten Person erzählt. Diese fragmentierte Erzählung, die Fragen nach Identität, Sexualität und der Beziehung zur Welt nachgeht, ist der erste Teil einer autofiktionalen Trilogie, in der auch die sich im Laufe der Jahrzehnte verändernde Metropole Helsinki eine wichtige Rolle einnimmt.

Frankreich – Annie Ernaux erhielt 2022 den Nobelpreis für Literatur. Anhand von zwölf Fotos und Erinnerungen, die aus Ereignissen, Worten und Dingen bestehen, vermittelt Annie Ernaux ein Gefühl für den Lauf der Jahre, von der Nachkriegszeit bis heute. Gleichzeitig spielt sie mit ihrem eigenen Ich und Sein in einer neuen Form der Autobiographie, die völlig auf das sonst übliche Personalpronomen „ich“ verzichtet. So schafft sie eine „unpersönliche Autobiographie“, die gleichzeitig kollektiv ist.

Griechenland – Die Geschichte des Helden Odysseus, der nach dem trojanischen Krieg eine zehnjährige Irrfahrt (sprichwörtlich auch Odyssee) erlebt, bevor er endlich nach Hause zu einer Frau Penelope zurückkehrt, gehört zu den Säulen der europäischen Kultur. Odysseus kämpft dabei gegen Verlockungen durch betörende Sirenen und schöne Frauen, gegen Götter und Flüche. Endlich angekommen, muss er sich der Anwärter auf seine Nachfolge erwehren und die Freier seiner Frau Penelope bestrafen. So erzählt die Odyssee vom Übergang der Welt der Götter und Krieger zur irdischen Welt der Menschen, die sich vom Determinismus befreit und für die Zukunft offen scheint.

Ungarn - Die Jungen von der Paulstraße, 1906 veröffentlicht, ist der international vielleicht bekannteste ungarische Roman. Der Roman spielt im März 1889 in Budapest und beschreibt den Kampf zwischen den Jungen der Paulstraße und den Rothemden… Alle Aspekte von Kriegsgeschichten – Loyalität, Verrat, Spionage, Strategie, Wettrüsten, Heldentum – sind in diesem erschütternden Buch präsent, und zwar mit einer Intensität, die der von echten Kriegen, den Kriegen der „Erwachsenen“, in Nichts nachsteht. Wenn der Roman einen so tiefen Eindruck beim Leser hinterlässt, liegt das auch daran, dass er ständig den Krieg an sich, aber auch seine spielerische Dimension aufzeigt. So werden die Triebfedern jedes Krieges bis zur Absurdität, bis zum Drama entblößt.

Irland – Connell und Marianne sind in der gleichen irischen Kleinstadt großgeworden. Er ist sehr sportlich und bei Mitschülern am Gymnasium beliebt. Sie ist eine etwas linkische, hochintelligente Außenseiterin, der es egal ist, was andere von ihr denken. Dann verlieben sich beide ineinander, aber Connell möchte ihre Beziehung geheim halten. Ein Jahr später ist es Marianne, die am Trinity College in Dublin aufblüht, während Connell mit dem Studentenleben weniger gut klarkommt. Nun werden die Karten neu gemischt. Ein meisterhaftes Buch über Jugend, Freundschaft und Sex und über eine ganze Generation, die nicht mehr das Recht hat zu träumen, aber hartnäckig weiter hofft. Ein zeitgenössischer Roman, an dem man nicht mehr vorbeikommt und der von der BBC als Miniserie genial verfilmt wurde: mit Paul Mescal und Daisy Edgar-Jones in den Hauptrollen.